Ein Hoch auf die Mehrdeutigkeit

Vielen Menschen, mich selbst eingeschlossen, die gerne planen und strukturieren und denen es wichtig ist, Dinge zumindest manchmal unter Kontrolle zu haben, fordert die Corona-Pandemie einiges ab. Wer schon vorher mit Unsicherheiten gehadert hat, muss sich nun täglich, spätestens aber mit jeder neuen Ministerpräsidentenkonferenz, jeder neuen politischen Entscheidung, damit auseinandersetzen. Was mich dieses Jahr mit dem Virus gelehrt hat, ist die absolute Notwendigkeit Uneindeutigkeiten und Unsicherheiten auszuhalten, um irgendwie klar zu kommen.

 

Ich frage mich, ob Menschen, die Einrad fahren können, Surfen oder Seiltanzen besonders gut darin sind. Diese Fähigkeit, auf wackeligem Untergrund, auf der Welle, in der Höhe, nicht die Balance zu verlieren und ganz bei sich zu bleiben, erscheint mir eine gute Grundvoraussetzung zu sein, um in dieser seltsamen Zeit zu bestehen.

 

Genau genommen war Unsicherheit auch vor der Corona-Pandemie eher die Regel als die Ausnahme, aber da war es vielleicht weniger offensichtlich. Klimawandel, Digitalisierung, die Welt steht vor riesigen Herausforderungen, die unser Leben in den nächsten Jahren grundlegend ändern werden. Je größer die Unsicherheiten, desto stärker der Wunsch nach einfachen und klaren und Antworten, die uns Orientierung geben. Einfache Antworten entlasten unsere Psyche. Was ist richtig, was ist falsch? Corona hat den Diskurs stark polarisiert, der Ton wurde zunehmend rauer. Darüber wurde bereits viel berichtet.  

 

Diese Tendenz ist aber auch in anderen Kontexten zu beobachten – die Mehrdeutigkeit verschwindet. Anzuerkennen, dass es bei komplexen Themen selten den einen richtigen Weg gibt und dies auch so zu kommunizieren, wäre ehrlich. Entscheidungen sind immer Entscheidungen für einen und gegen viele andere mögliche Wege. Entscheidungen sind nie nur „gut“ oder „schlecht“. „Demokratie lebt davon, dass man Ambiguität in Kauf nimmt“, sagt Religionswissenschaftler Thomas Bauer.

 

Das Aushalten von Mehrdeutigkeit heißt in der Fachsprache deshalb Ambiguitätstoleranz. Ich glaube, nie zuvor war diese Fähigkeit so wichtig.  Offen zu sein, für Vielfalt, andere Ansichten, konträre Meinungen auszuhalten oder sie sogar gezielt zu suchen ist, ist eine Kompetenz, die Bewegung in einen festgefahrenen Diskurs bringt. Ambivalenzen auszuhalten ist anstrengend, aber es ermöglicht ein Sich-Einander-Annähern. Und das ist nicht nur im politischen Diskurs, sondern auch in der Partnerschaft, im Familienleben, im Job und überall sonst, wo uns Menschen begegnen, von großer Wichtigkeit. In jeder menschlichen Beziehung gibt es Ambiguitäten: Wir können unseren Partner lieben und trotzdem enttäuscht von ihm sein, wir können unsere Kinder vermissen und trotzdem freie Zeit, ohne sie genießen. 

 

Ambiguitätstoleranz und Wandel im Coaching   

 

Die Arbeitswelt der Zukunft ist dynamisch, vielfältig und verändert sich dauernd. Gewissheiten stehen permanent auf dem Prüfstand, das was heute richtig erscheint, kann morgen schon wieder überholt sein. Auf diese Unübersichtlichkeit nicht permanent mit Widerstand, Aktionismus oder Stress zu reagieren, wird eine immer notwendigere Kompetenz. „New Work needs Inner Work“, so der großartige Buchtitel von Joana Breidenbach und Bettina Rollow.   

 

„[…] eine Welt, die ständig in Bewegung ist, erfordert von uns neue Fähigkeiten“, so die Autorinnen. Wenn man den Wandel im Außen als Normalzustand akzeptiert und die damit verbundenen Spannungen anerkennt, öffnet sich ein Raum, um Stabilität und Sicherheit im Innen zu entwickeln. Dies gilt sowohl für Organisationen wie auch für jeden Einzelnen.

 

 

Ambiguitätstoleranz wird in der Psychologie zwar als ein stabiles und damit eher schwer veränderbares Persönlichkeitsmerkmal beschrieben, nichtsdestotrotz können wir die Fähigkeit, widersprüchliche Gefühle auszuhalten, trainieren. Wir können uns darin üben, dass viele Situationen, die uns in Alltag und Beruf begegnen „sowohl als auch“ sind. Eine wohlwollende Akzeptanz dessen, ist die beste Grundlage, um einer unsicheren Zukunft mit Zuversicht zu begegnen und nicht den Halt zu verlieren. Coaching kann hier den Blick erweitern.